Berlin (4)

Die Fortsetzung von diesem Text.

Karl-Marx-Allee

 

Wir sind dann fast die ganze Karl-Marx-Allee entlang gegangen, durch die an diesem Tag menschenleere und ausgesprochen verkehrsarme Prachtstraße. Wie überhaupt, das habe ich noch gar nicht erwähnt, sich Berlin dadurch auszeichnet, dass es nicht voll ist. Zumindest nicht an den heißesten Tagen des Jahres, zumindest nicht an einem Wochenende. Das verläuft sich alles sehr angenehm in den breiten Straßen. Wenn man die immer knüppelvolle Hamburger Innenstadt oder unseren Hauptbahnhof gewohnt ist, den man nicht mehr durchqueren kann, ohne anschließend Menschen tagelang zu hassen und sich nach Wüsteneien und Einöden zu sehnen, dann hat man selbst am Brandenburger Tor, wo die Touristen in Hundertschaften minütlich und busweise ausgekippt werden, überall genug Platz zum Atmen. In Städten, in denen es mal Könige, Kaiser, Diktatoren, Endkämpfe, Besatzer und dergleichen gab, sind die Straßen eben breiter.

Karl-Marx-Allee

 

Das fiel auch den Jungs aufs, und zwar schmerzlich. In der Karl-Marx-Allee gibt es nämlich richtig breite Fußwege, es gibt kaum Leute, es gibt nichts als Platz – und sie hatten weder Skateboard noch Waveboard dabei. Das war natürlich hart, da standen sie mit sehnsüchtigem Blick auf dem leeren Pflaster, auf dem man so überaus prima hätte herumkurven können – das gab ihnen für künftige Reisen schon etwas zu denken. Doch lieber immer alles mitschleppen, falls man mal irgendwo einen verlassenen Boulevard ohne Besucher findet? Und wenn man dann doch nichts findet? Das ist gar nicht so einfach.

Kino International

 

Den Söhnen fiel aber sonst an der Straße, die jeder Erwachsene sofort als hochspeziell erkennt, als sehr auffällig anders als der Rest der Stadt bebaut, übrigens nichts auf. Eine Straße eben. Mit Häusern. Was wieder etwas bestätigt hat, das mir schon seit einigen Jahren immer wieder auffällt, seit ich dauernd mit Kindern zu tun habe: Kinder sehen Architektur nicht gut. Sie haben wenig bis gar keinen Sinn dafür, sie können auch schlecht Alt- von Neubauten unterscheiden. Faszinierend, das war mir überhaupt nicht klar, bevor ich eigene Kinder hatte. Sohn I fällt jetzt erst allmählich auf, dass man Häuser irgendwie gruppieren kann, nach Stilrichtungen, Alter usw., er ist aber auch bald schon acht Jahre alt. Da fängt das wohl erst an. Das einzige Gebäude, das den Söhnen in Berlin besonders auffiel, war die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße, die hat aber auch, wenn sie plötzlich golden über die Häuser ragt, einen etwas märchenhaften Touch. Die Karl-Marx-Allee war für sie also nur irgendeine Straße in Berlin. Und das Wunder, das wir kurz darauf sahen, war für sie dann auch gar keines.

Karl-Marx-Allee

 

Für uns allerdings war es eines, für mich besonders. Da war nämlich eine Buchhandlung auf der Karl-Marx-Allee, in der es gerade eine Lesung gab, als wir vorbeigingen. Und die Lesung war brechend voll. Da saßen vierzig Leute oder mehr und hörten zu. Drinnen. Bei immer noch 35 Grad und absurd stickiger Luft. An einem Sonnabend. Abends. Da stand ich mit offenem Mund vor den Schaufenstern, das hat mich sehr beeindruckt. Für Hamburg kann ich mir das nur schwer vorstellen, wenn hier nicht gerade irgendwelche Superstars wie Max Goldt oder John Irving lesen, mit denen man auch Hallen voll auslasten kann. Das muss der Neid den Berlinern lassen, Lesungen können sie offensichtlich. Respekt!

Dann gingen wir zum Alexanderplatz, und die Söhne haben sich dort spontan und ganz alleine das Abendessen finanziert.

(Fortsetzung folgt)

 

11 Kommentare

  1. Das ist mir auch sofort ins Auge gesprungen, dass dies die Panke-Buch-Lesung gewesen sein muss! Wie lustig.
    Ansonsten kann Berlin ja auch fürchterlich voll sein, am Potsdamer Platz vor allem. Doch sommers sind die meisten unterwegs zum See und überlassen die Stadt den Gästen. Nett, nicht?

  2. Der Hamburger Hauptbahnhof. Mir graut ja sowieso vor dieser Olympiasache, aber immer wenn ich am Hbf bin, denke ich: das kann nicht gut gehen. Das geht ja schon jetzt nicht mehr gut.

  3. Der Hamburger Hauptbahnhof ist Krieg. Und ja, ein Menschenfreund ist man danach echt nicht mehr.
    @Miriam: Ich hoffe inständig, dass der Kelch der olympischen Spiele an Hamburg vorübergeht – ich mag mir gar nicht vorstellen, was für Zustände hier dann wochenlang herrschen würden.

    Ansonsten bin ich gespannt auf Teil 5 🙂

  4. Damen und Herren: Immer, wenn Sie durch den Hauptbahnhof gehen, sind Sie Teil der Menschenmasse und damit Teil des Problems. Und nun?

    Ich will damit Ihre Unmutsbekundungen und Ihr „Leiden“ (?) nicht marginalisieren, aber Sie auf das spannende psychologische Paradoxon (hat dieses Phänomen einen Namen?) aufmerksam machen, das mich bei jeder solchen Äußerung anatmet, wie auch bei Beschwerden über zuviel Verkehr – hierzu als Merksatz: „Du stehst nicht im, nein, Du bist der Stau.“ (Die Fantastischen Vier).

  5. „Wenn man die immer knüppelvolle Hamburger Innenstadt oder unseren Hauptbahnhof gewohnt ist, den man nicht mehr durchqueren kann, ohne anschließend Menschen tagelang zu hassen und sich nach Wüsteneien und Einöden zu sehnen“
    <3

  6. @Carom: Da hast du natürlich recht. Ich versuche es aber, so gut wie möglich zu vermeiden, Teil des Hauptbahnhofgedränges zu sein.
    Und weniger toll im Weg zu stehen als die „ooooh, so ein großer Bahnhof, wo muss ich denn da hin, ich stell mich mal mit meinen 37 Koffern in die Mitte des Weges und schau mich in Ruuuuhe um“-Menschen.

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Time limit exceeded. Please complete the captcha once again.