Klingelstreich

Je älter man wird, desto öfter muss man sich fragen, ob das, was einem nicht passt, wirklich objektiv blöd ist – oder ob man nur ungnädig und bockig wird, ob man schon längst auf dem Weg zum Nörgelrentner ist. Das gilt natürlich besonders für Technik. Bleibt man offen und modern, oder schottet man sich ab, träumt von damals und verweigert die Gegenwart? Man hat vermutlich die Wahl.

Ich öffne die Tür zum Bürohaus, in dem ich arbeite, mit einer Chipkarte. Das ist praktisch, aber nicht praktischer als ein Schlüssel. Der Vorgang ist ähnlich. Eine Chipkarte ist modern, aber diese Moderne stört nicht, es sei denn, die Anlage fällt aus. Das tat sie aber noch nie. Chipkarten sind okay, das kann man machen. Wenn ich keine Chipkarte hätte, müsste ich im Büro klingeln. Es gibt aber gar keine Klingeln mehr. Es gibt jetzt einen Bildschirm an der Tür, auf dem „Anleitung Klingelanlage“ steht. Alle paar Sekunden wechselt die Anzeige ins Englische: „Door bell guidance.“ Berührt man diesen Bildschirm, wird dort erklärt, wie man mit Pfeil rauf und Pfeil runter aus den angezeigten Namen im langen, mehrseitigen Klingelmenü den richtigen auswählen kann, auf den man dann endlich drücken darf. Das dauert eine ganze Weile. Man steht als Anwender sprachlos davor und denkt sich: „Also früher hatten wir einfach so einen Klingelknopf. Mit einem Namen daneben. Das ging doch auch.“

Und da muss man sich schon fragen – steht man gerade vor einer völlig bescheuerten technischen Entwicklung, die sich nur Menschen ausgedacht haben können, die einen ganz eigenen Humor haben? Oder versteht man die sich ändernde Welt nicht mehr recht? Ist man schon abgehängt? Ich denke schon seit Tagen intensiv darüber nach. Und es sieht nicht gut für die Klingelanlage aus.

(Dieser Text erschien als Kolumne in den Lübecker Nachrichten und in der Ostsee-Zeitung)

9 Kommentare

  1. Jetzt musste ich laut lachen, weil ich just vor einigen Wochen vor so einer Klingelanlage mit offenem Mund stand. Vor einem Wohnhaus. Bis ich den Nachnamen des zu besuchenden wieder präsent hatte und mich durch die Tücken der Anlage gequält hatte.. sagen wir so: ich hab dann kurz angerufen und gebeten, aufzudrücken :-))

  2. Naja, die Welt dreht sich halt. Blogs sind recht neu, 15 Jahre in meiner Wahrnehmung, und ich kenne Leute, die halten nach wie vor Blogs für überflüssige und kapriziöse Selbstbeweihräucherung, ähnlich wie Essen-Fotos auf Twitter – was sagen Sie denen denn?

    (Und für diese Türanlagen sehr ich ein paar Vorteile, unter anderem bei der Pflege von Namen, da muss niemand mehr ein Schild drucken oder gravieren. Und eine Abwesenheitsnotiz am „Klingelbrett“ fände ich auch praktisch, da hat man seine Ruhe.)

  3. Sagen wir so, ein Arzt, zu dem ich zwei bis drei Mal im Jahr gehe, hatte so ein Klingeldings. Bis es richtig installiert war, stand erst mal die ersten Monate immer die Tür offen. Das nächste Mal wo ich dort war, hat das Klingeldings funktioniert, das Mal darauf musste ich irgendwo anders klingeln, weil sich die Arztpraxis nicht auswählen ließ und beim letzten Mal war das Klingeldings verschwunden und es gibt jetzt wieder altmodische Klingeln…

    Es könnte eventuell sein, dass das eine von diesen Neuerungen ist, die fehleranfälliger ist als vorher gedacht. Eventuell.

  4. Bei einem Bürogebäude lasse ich mir das ja noch gefallen, da gehe ich jetzt mal davon aus, dass das „Klingeln“ mich mit dem Telefon der Person verbindet zu der ich dann auch möchte, und in einer Bürogemeinschaft müsste sich sonst immer jemand finden, der sich bemüsigt fühlt dann doch mal an die Tür zu gehen wenn es klingelt.

    An einem privaten Wohnhaus finde ich es eher unsinnig. Ausser der theoretisch einfachen Administration der „Klingelschilder“ sehe ich da keinen Vorteil gegenüber einer herkömmlichen Klingel, ausser dass manche vielleicht davor stehen wie der Ochs vorm Berg …
    Andererseits könnte der Paketbote nicht einfach auf alle Klingeln gleichzeitig drücken … hm …

  5. Der Paketbote, überarbeitet und in Eile, drückt gar nicht mehr. Der wirft schnell den Benachrichtigungszettel ein und fährt wieder.

    Klingelanlagen dieser Art habe ich schon vor zehn Jahren in einem Apartmenthotel in Irland gesehen. Ich fand sie schon damals unsinnig und habe mich über die deutsche Eigenschaft, nicht ungefragt jeder Neuerung hinterherzulaufen, gefreut. Wohlwissend, dass wir diese „Errungenschaft“ nie oder mit großer Verzögerung sehen werden.

    Nun ist es also so weit. Na ja, da sind wir immerhin zehn Jahre lang dem Blödsinn entkommen.

    Blödsinn, da kann man ganz sachlich argumentieren, weil in dieser Mensch-Computer-Interaktion der Endbenutzer missachtet wird – zugunsten einer vorgeblich vereinfachten Administration des Systems. Ein leider nicht seltenes Vorgehen in der IT. Der Endbenutzer bleibt immer dann auf der Stecke, wenn auf dem Papier Kosten bei der Installation oder Administration gespart werden, oder wenn der Administrator es sich selber gemütlich einrichtet und den Endbenutzer als unwichtig betrachtet.

  6. so kann der outgesourcte facilitymanager, der sein büro in indien hat, viel einfacher verlorene chipkarten sperren oder namensänderungen vornehmen.
    ist doch toll.

    nicht.

  7. Oh ja, an meiner letzten Arbeitsstelle gabs so was, mit Chips am Schlüsselbund (!), ganz toll und zickzack viel schneller als Schlüssel ziehen. Da konnte ganz viel Zeit gespart werden. Ganz besonders jene der Rezeptionistin, die jedes Mal, wenn es nicht funktionierte – also mehrmals täglich – zwei Stockwerke runterlaufen musste, um die Tür von Hand zu öffnen. Aber Rezeptionistinnenzeit ist wohl nicht so viel wert, die sitzen ja eh nur den ganzen Tag rum und warten darauf, jemanden zu empfangen.

  8. Wir haben das in unserem Büro auch und ich erkläre mehrmals täglich die Tür, da wird nämlich nichts erklärt. Es ist ein echtes Problem für Leute, die nicht gut sehen können, oder nicht schnell genug laufen können, die Türöffnungszeit ist nicht besonders lange bemessen. Ich rege mich schon lange darüber auf, denn hier im Haus ist auch eine Arztpraxis, und die Leute, die dorthin müssen, haben eigentlich nicht verdient, sich auch noch mit Türen abzuquälen.

  9. Pingback: Weekly Leseempfehlung vom 7. November 2014 | off the record

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