Gelesen, vorgelesen, gesehen, gespielt und gehört im Oktober

Ilse Helbich: Grenzland Zwischenland. Zu Ilse Helbich, die sicher nicht allgemein bekannt ist, habe ich hier im Juli bereits etwas notiert. In diesem Buch geht es um das Älterwerden und um das Sehraltwerden. Sie beschreibt ihr Erleben und ihre Gedanken mit einer Klarheit, die man sich für sein eigenes Alter wohl erträumen möchte. Sie beschreibt, wie sich alles ändert, ihr Körper, ihre Sicht auf die Welt, die sie sich mehr und mehr nur noch denkend oder träumend erschließen muss, weil die Augen nicht mehr mitmachen und nur noch unklare Blilder liefern. Alles verschiebt sich, Ihr Denken, ihr Wollen, das Verhältnis der Jüngeren zu ihr, das Verhältnis zur Sexualität, zur Vergangenheit. Es ist ein Buch, das man kaum in einem Rutsch durchlesen kann, obwohl es nur ein schmales Bändchen ist. Zwischendurch wundert man sich vielleicht, wieso die Dame sich so gestochen scharf ausdrücken kann und manchmal in Formulierungen einsteigt, die nach ganz anderer Lektüre klingen – dann stellt man fest, dass sie zur Biografie Wittgensteins gearbeitet hat, vielleicht erklärt es das. Wer sich mit dem Alter beschäftigt, und wer würde das nicht irgendwann tun, wird das Buch mit Interesse lesen. Mit großem Interesse. “Der Dünkel allen Jüngeren gegenüber, das heißt, allen gegenüber: Wenn ich euch zusehe, weiß ich, was ihr gerade erlebt, auch ich habe dergleichen erfahren. Ihr jedoch wisst nichts von mir, von den Gegenden, in denen ich jetzt lebe.”

Gleich das nächste Buch von ihr bestellt, Vineta, da geht es um ihre Jugenderinnerungen. Da fehlt dann nicht mehr viel, um ihr Gesamtwerk gelesen zu haben, das ist der Vorteil bei den spät berufenen Autorinnen.

Lars Gustafsson: Der Mann auf dem blauen Fahrrad – Träume aus einer alten Kamera. Deutsch von Verena Reichel. Das letzte Buch, das ich von ihm gelesen habe, “Frau Sorgedahls schöne weiße Arme” habe ich hier erwähnt, da ging es u.a. um Zimtbirnen. Beim Mann auf dem blauen Fahrrad kommen auf den ersten Seiten schon wieder Zimtbirnen vor und jetzt würde ich tatsächlich gerne wissen, was es mit Zimtbirnen auf sich hat. Offensichtlich ist es eine Sorte, gar kein Rezept, wie ich zunächst dachte. Google bestätigt das aber nicht, es ist seltsam. Weiß jemand, was schwedische Zimtbirnen sind?

Ansonsten fand ich den Anfang des Buches etwas schwerfällig, wenn nicht sogar sterbenslangweilig, das habe ich für einen zweiten Anlauf irgendwann sehr viel später weggelegt. Es geht in dem Buch allerdings auch um die Vermischung von Traum und Wirklichkeit, das ist leider eines der literarischen Themen, die ich geradezu lähmend uninteressant finde, da werde ich dann auch ungnädig. Dabei spricht das gar nicht gegen das Buch, das ist natürlich einfach Geschmackssache. Das hat man ja, solche Handlungsmuster, bei denen man Bücher sofort zuklappen möchte. Ich bin jedesmal hell empört, wenn sich irgendein Stück Handlung in einem Buch oder einem Film als Traum entpuppt. Was erlauben Autor! Gedächtnisschwund ist auch so ein unerträgliches, heillos abgenutztes Thema, geh mir weg, das kommt mir nicht ins Haus.

Franz Kafka: Der Verschollene. Ich habe etwa zwanzig Seiten gelesen, das Buch weggelegt, bin eingeschlafen und habe den Albtraum des Jahres, wenn nicht des Jahrzehnts gehabt. Ceterum censeo: Ich vertrage Kafka einfach nicht. Er ist dennoch großartig, gar keine Frage.

Werner Koch: Pilatus. Von Werner Koch mochte ich “Seeleben I”, der Pilatus hier sagte mir aber eher nichts, den habe ich nach der Hälfte weggelegt. Obwohl die Grundidee des Buches interessant ist, da sitzt ein sehr abgehalfterter und zudem schwerhöriger, früh gealterter Pilatus in Rom, am trüben Ende seiner Karriere. Er betrauert seine gerade verstorbene Frau und erinnert sich mitunter an Jerusalem, an die schwierigen Zeiten, an damals. Auch an diesen seltsamen und faszinierenden Barrabas denkt er gelegentlich. Kaum aber, nur hier und da in einem Nebensatz, an diesen Jesus.

Patrick Modiano: “Café der verlorenen Jugend”. Deutsch von Elisabeth Edl. Das habe ich mir nach der Vergabe des Nobelpreises als e-Book heruntergeladen. In meinen Timelines waren nicht gerade wenige, die die Vergabe des Preises an Modiano unter anderem deswegen kritisierten, weil sie ihn überhaupt nicht kannten, ein wirklich bemerkenswert blödes Argument. Ich kannte den Namen, hatte aber noch kein Buch von ihm gelesen. Eine gute Gelegenheit, ihn kennenzulernen, ich habe das auch nicht bereut, im Gegenteil, von ihm lese ich sicher noch mehr. Ich habe die Begründung der Jury nicht parat, aber das ist brillant erzählte, ganz leichtfüßig daherkommende Literatur, die flüchtige Erzählungen über Abgründe webt, das gefiel mir. In Frankreich gibt es übrigens gerade einen kleinen Skandal, weil die Kulturministerin anlässlich des Nobelpreises öffentlich bekannt hat, wegen ihres Jobs keine Zeit zum Lesen mehr zu haben. Mon Dieu!

In diesem Zusammenhang habe ich gegoogelt, wer in Deutschland für die Kultur zuständig ist, es ist die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, sie heißt Monika Grütters und ich habe den Namen noch nie vorher irgendwo gesehen. Nanu.

Vorgelesen

Tomi Ungerer: Flix. Ein Zufallsfund im Wartezimmer eines HNO-Arztes, in dem ich mit Sohn I über eine Stunde warten musste, da ist man dankbar, wenn ein paar Kinderbücher herumliegen. Text und Bilder von Tomi Ungerer, ein Katzenpaar bekommt ein Baby und es ist ein Hund. Eine Geschichte über Integration und Verständigung, mit Happy End und selbstverständlich großartigen Illustrationen. Ein wenig drastischer, als man es im pinkfarbenen Einhornland mit Glitzer auf jeder Seite gewohnt ist, es ist eben Ungerer. Sohn I war begeistert, ich auch.

Und da wir in diesem Monat das Baby einer Freundin bestaunt haben, hat Sohn II Sehnsucht nach einem Geschwisterchen gehabt und wollte mehrfach das Buch vorgelesen haben, das hier Sohn I auf seine Rolle vorbereitet hat: Benny passt auf von Barbro Lindgren und Olof Landström, Deutsch von Kerstin Behnken. Da geht es um Schweine, ein großer Bruder muss aufpassen, dass sein kleiner Bruder nicht in den Teich fällt, an dem alle kleinen Schweine spielen, auch die anbetungswürdige Klara, auch der böse Rulle. Das Buch verschenken wir quasi reflexmäßig, sobald im Freundeskreis jemand schwanger wird. Gutes Buch. Und nach eingehender Schilderung aller Nachteile ist Sohn II auch zufrieden, wenn es kein Geschwisterchen gibt. Schwein gehabt, sowohl im Buch als auch im Leben.

Gesehen

“Der kleine Nick macht Ferien” – der Film hat, um es gleich vorwegzunehmen, mit dem Humor der Bücher wenig bis gar nichts zu, was natürlich bedauerlich ist. Diverse Filmkritiker lobten den kindertauglichen Humor, man muss ausdrücklich bezweifeln, dass sie Kinder haben. Der Film ist vielleicht ab 10 aufwärts verständlich, ab 12 aufwärts womöglich sogar lustig, vorher eher nicht. Für Erwachsene aber immerhin eine opulente 50er-Jahre-Ausstattungsorgie. Mich kann man mit so etwas immer leicht zufriedenstellen, ich sehe mir wirklich gerne hübsche Kulissen und schicke Kleider an, und das ist überhaupt nicht ironisch gemeint. Sohn II, ganz entschieden zu jung für den Film, fragte zwanzig Minuten nach Beginn des Hauptfilms laut und deutlich verstimmt: “Hört diese Kackwerbung bald mal auf?”

Gespielt

Ich musste dauernd zwei Finger irgendwo hinhalten, weil irgendwelche Kinder, eigene oder Besuchsexemplare, daran Loom-Armbänder flechten wollten. Das ist auf die Dauer doch etwas lästig.

Ansonsten hatte ich zwar die überaus romantische Vorstellung, mit den Söhnen im Herbst viel zu spielen – aber hier war weiterhin größtenteils bestes Wetter und die Kinder jeden Tag bis zum Umfallen draußen auf dem Spielplatz. So wird das nie etwas mit den Brettspielen oder den Karten. Schlimm.

Gehört

Chopin von Pires. Das mit der klassischen Musik funktioniert bei mir bekanntlich nur ab und zu, diesmal blieb ich bei Chopin hängen, die Aufnahmen von Frau Pires. Zu der Dame hier ein Artikel in der Zeit, das ist eine etwas speziellere Pianistin, ich mag die Aufnahmen sehr. Wobei ich natürlich zu sinnigen Vergleichen mit anderen Pianistinnen gar nicht in der Lage bin, da fehlt mir jede Bildung.

Gregory Page. Spotify empfiehlt einem ja auf einer speziellen Seite Musik und zwar tut es das durch bemerkenswert schlechte Algorithmen, die entweder das vorschlagen, was man eh schon hört, oder aber etwas, das exakt genau so klingt – oder vollkommen abwegige Musik, z.B. xbeliebige Neuerscheinungen. Ein zielführendes Konzept steckt offensichtlich nicht dahinter, das kann z.B. das sehr, sehr große Onlinewarenhaus mit A vorne wesentlich besser. Gregory Page ist eine der ganz seltenen Spotify-Empfehlungen, die ich jemals tatsächlich interessant fand. Der macht Retrozeug in Richtung Grammophon, das klingt entspannt, gefällig bis kitschig, ein wenig überkandidelt, melodiös und goldoktobrig, das gefällt mir. Bei Vimeo findet man etliche Filmchen von ihm. Seine Seite ist hier.

White Horse Sessions: Gregory Page „That’s You“ from White Horse Sessions on Vimeo.

4 Kommentare

  1. (herr gustafsson schreibt sich mit einem f und zwei s. – entschuldige, aber bei namen sind tippfehler doof.)

    ich hab seine frühen bücher sehr gemocht („wollsachen“ zum beispiel). das ist allerdings eine weile her, vielleicht sollte ich mal wieder reingucken. träume kamen – soweit ich erinnere – dort nicht vor. im gegenteil; alltag allerorten. und alltag von anderen leuten finde ich meist sehr spannend.

    und frau helbich. nach deiner früheren erwähnung habe ich mir just jenes „grenzland zwischenland“ gekauft und kann deine eindrücke nur bestätigen: das kann man nur in stücken lesen. und ich bin noch nicht mal ganz durch, weil ich immer wieder von vorne anfange, weil meine gedanken immer wieder abschweifen. gutes buch.

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