Auf der Suche

Der Herbst findet einfach nicht statt. Die Tage sind zweistellig warm, in unserer Dachgeschosswohnung ist es sogar noch heiß. Die Leute in der Stadt laufen immer noch im T-Shirt herum, zur Mittagszeit ist die Luft an manchen Tagen seltsam tropisch an der Alster. Für Menschen, die den Herbst mögen, ist das ein seltsames Wetter, es ist unbefriedigend und enttäuschend. Ja, die Sonne, ja, die ist schon nett. Ja, das goldene Licht, okay, immerhin. Ganz fotogen. Wir haben noch keine Heizung angemacht, das ist auch fein, das spart Geld.

Aber von drinnen auf Regen sehen, mit einem guten Buch auf dem Schoß, womöglich sogar einem dickeren? Die Parallelwelten von Nádas liegen hier immer noch ungelesen herum, die wären doch passend für ein paar schön verregnete Herbsttage. Und apropos dick – dicke Pullover tragen? Mit einem gewissen Kuscheleffekt? Dazu gemütlich drinnen spielende Kinder, und man wüsste zur Abwechslung einmal, wo sie sind, nämlich eine Tür weiter? Leises Klickern der Legosteine aus dem Kinderzimmer, während man sachte ins nächste Nickerchen eines wohligen Sofasonntags gleitet? Das wäre doch auch nett. Statt dessen muss man schon wieder draußen Fußball spielen. Die ganze Herbstmelancholie funktioniert bei dem Wetter nicht und wenn sie nicht bald eine Chance bekommt, dann geht sie in dem wie immer zu süßlichen Weihnachtsstimmungssumpf des vierten Quartals unter, das geht doch so nicht.

Wie viele Gedichte da gar nicht erst empfunden werden, wie viele Lieder da nicht geschrieben werden! Womöglich verzögert sich das nächste Album von Element of crime gleich um ein ganzes Jahr, wenn so eine Saison der Inspiration komplett ausfällt. Womöglich erscheint DER nächste deutsche Liebesroman überhaupt nicht, weil die Autorin oder der Autor ohne Herbst einfach nicht auf die alles entscheidende Wendung kommt. Wie viele Liebesgeschichten überhaupt in so einem herbstlosen Jahr auf die entscheidende Wendung zum Guten oder Schlechten verzichten müssen, und das womöglich nicht nur in Büchern! Schlimm.

Im Wetterbericht für Norddeutschland schieben wir nun schon seit etlichen Wochen zwei Regentage vor uns her, sie rutschen jeden Morgen immer einen Tag weiter nach hinten und finden nie statt – und zwar in allen Wetter-Apps, da kann man klicken, wo immer man möchte. Darauf springen die Verschwörungstheoretiker wieder nicht an, obwohl es doch so offensichtlich ist. Aber die Damen und Herren mit den Aluhüten kümmern sich ja lieber um Albernheiten wie Chemtrails, statt der klammheimlichen Abschaffung des Herbstes nachzugehen, die doch auf der Hand liegt.

Wir sind aufs Land gefahren, wir haben die Flattr-Einnahmen dieses Blogs in den Tank gesteckt – ganz herzlichen Dank dafür! – und sind durchs sonnenverwöhnte Niedersachsen ins mediterran anmutende Nordostwestfalen gefahren. Das Maisfeld vor Schwiegermutters Küchenfenster wurde dort gerade abgeerntet. Für einen großen Acker brauchen sie heutzutage gerade einmal vierzig Minuten, da kommt auch keine rechte Erntedankromantik mehr auf, das ist eher zack und weg. Die Störche sind immer noch da und schreiten sinnend über die so plötzlich entstandenen Stoppelfelder, sie diskutieren Reiseabsichten und Flugpläne und sehen prüfend in den strahlend blauen Himmel. Was ist los mit diesem Land, was ist los mit diesem Wetter?

Rehe stehen auf dem Acker, in dem hohen Mais war eben gerade noch ihr Versteck. Sie sind nur schnell eine Kleinigkeit essen gegangen und dann das. Alles weg. Jetzt blicken sie ratlos in alle Richtungen, wissen nicht mehr, wo sie sind und vermutlich auch nicht, welche Jahreszeit es ist, denn auf dem schwarzen Stoppelacker ist es heiß. Sie laufen sinnlos im Kreis und wissen nicht weiter. Wildgänse ziehen über uns hinweg. “Die ziehen in wärmere Länder”, erklärt der Opa den Söhnen. “Noch wärmer” sagt Sohn I und nickt wissend.

Ich stehe am nächsten Tag früh auf, ich gehe gleich aus dem Haus, ich habe da so einen Verdacht. Es ist kalt draußen, man muss eben nur früh genug aufstehen. Es ist kalt wie früher im Herbst, die Älteren erinnern sich. Es ist sogar eine eiskalte Schärfe in der Luft, eine leichte Ahnung von Novembergemeinheit. Der nackte Acker riecht nach moderiger Nässe und der Morgennebel kriecht einem nach ein paar Schritten schon in die Kleidung, dass man alles zumacht und an sich zieht. Ich gehe zur Straße zwischen den Wiesen und sehe Richtung Dorf. Und da immerhin ist er dann doch, der Herbst, der sich nicht traut.

Er treibt sich im Morgengrauen auf den Landstraßen herum. Er wartet ab, bis es richtig hell ist und die Sonne herauskommt, dann versteckt er sich wieder, in seiner neuen und ungewohnten Rolle als Kalenderpartisan. Ein Nachtleben führt er, dezent und unerkannt, wie ein Siebenschläfer. Aber ich bin leise gegangen, ganz leise, ich habe mich sachte an ihn herangeschlichen. Ich habe mich hinter die große Birke gestellt und auf den Auslöser gedrückt, bevor er wieder im Wald verschwunden ist.

Es wird nicht viele Bilder von ihm geben, aber ich habe ihn doch erwischt. Bitte sehr, der Herbst 2014. Wer weiß, ob man ihn überhaupt noch einmal sieht.

Nebel

 

21 Kommentare

  1. Meine Güte, Herr Buddenbohm, ich verneige mich! Schön des öfteren gab es hier ja schon richtig, richtig gute Texte zu lesen, aber dieser ist wohl der bisher beste. Ich weiß nicht recht, ob es Tränen der Rührung sind oder Lachtränen, die ich gleich nochmal wegwischen muß. Egal — Lesertränen, so heißt es, sind ja ein Anzeichen dafür, daß ein Text was taugt. Vielen Dank dafür.

  2. Ein wunderbarer Text.“Herbstjagen“ haben das die Kinder am Wochenende genannt, als sie den Nebel kommen sahen und die frisch geschorenen Schafe losrannten.

  3. Danke für dieses Streicheln der herbstliebenden Seele!
    Schöner könnte man die Sehnsucht nach Herbst nicht in Worte fassen !
    Eine Oktobergeburtstagsfrau

  4. Schönes Bild und schöner Text.
    Von mir aus könnte es auch mal etwas herbstlicher werden. Der Sommer war ja nun schon lang und warm genug.

  5. Wenn ich den Herbst nicht ohnehin lieben würde (wie alle Jahreszeiten für ihre Besonderheiten), spätestens jetzt würde ich es tun. Danke. Danke. Danke. Das ist eine zauberhafte, charmante Liebeserklärung. Und soooo schön geschrieben und bebildert. #hach

  6. Jo, an diesem Text stimmt alles – außer eben das Wetter. War mir als Gartenbesitzer auch schon aufgefallen: Dürregebiet Hamburg. Leicht beunruhigend, dass die Waldbrandgefahr steigt, jetzt im Oktober.
    Und das Foto ist wirklich wunderschön. The early bird …

  7. War nicht der Sommer der eigentliche Herbst in diesem Jahr? Vielleicht wurden da die nächsten (!) Element-of-Crime-Platten erdacht und DER große deutsche Liebesroman geschrieben. Falls nicht, müssen wir uns mit Ihren Texten behelfen. Und das ist wahrlich keine schlechte Alternative!

  8. Ich bin des Herbstes erstes Kind (Geburtstag am 23.09.) und freue mich immer über die schönen Farben, die Gerüche, das letzte Ahnen des Sommers und die ersten Andeutungen des Winters. Ich bin einem Seelenverwandten begegnet; vielen Dank dafür und für viele andere schöne Momente hier 🙂

  9. Pingback: Die letzte Sonne

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