Quivit

Sollten Sie jetzt gerade bei der Überschrift bereits eine brauchbare Assoziation gehabt haben – ich gratuliere zu Ihrer Belesenheit. Ich hatte bis vor ein paar Tagen gar keine Vorstellung von diesem Wort, das hat sich erst im Urlaub auf dem Bauernhof auf Eiderstedt geändert, da allerdings gründlich. Da habe ich, es wurde bereits in der letzten Leseliste erwähnt, die Märchen von Andersen wieder einmal gelesen, zum ersten Mal seit der Kindheit nehme ich an.

Bei Andersen gibt es das Märchen vom Däumelinchen, es ist eines der Märchen, die mir gar nicht mehr präsent waren. Es handelt von einem kleinen, einem sehr, sehr kleinen Mädchen, das von allerlei Tieren nacheinander geraubt wird. Die Tiere wollen sie jeweils behalten und heiraten, es handelt sich aber um eher grässliche Geschöpfe wie Kröten und Käfer. Sie flieht also ein ums andere Mal. Sie flüchtet sich schließlich kurz vorm Kälte- und Hungertod zu einer Feldmaus, bei der sie Nahrung erhält. Allerdings will die Feldmaus sie mit ihrem Nachbarn, einem unsympathischen Maulwurf verheiraten. In der Höhle des Maulwurfs liegt ein toter Vogel, eine Schwalbe. Däumelinchen lehnt bedauernd den Kopf an den Vogel und merkt, dass er noch lebt, er ist vor Erschöpfung abgestürzt, auf dem Weg in den Süden. Sie pflegt ihn heimlich und hilft ihm durch den Winter. Schließlich verhilft die wiederbelebte Schwalbe ihr im nächsten Herbst zur Flucht in den sonnigen Süden, wo sie sich prompt in einen attraktiven Blumenengel verliebt. Sie winkt der Schwalbe zum Abschied zu und, ich zitiere:

“Lebe wohl, lebe wohl”, sagte die kleine Schwalbe und flog wieder fort von den warmen Ländern, weit weg nach Deutschland zurück; dort hatte sie ein Nest über dem Fenster, wo der Mann wohnt, der Märchen erzählen kann, vor ihm sang sie ihr “Quivit, quivit!” Daher wissen wir die Geschichte.”

Das also las ich abends im Bett und am Morgen wachte ich auf, weil es über mir verblüffend laut “Quivit, quivit!” rief. Ausgesprochen fröhlich klingende Rufe waren das, munter und hochgestimmt und sie kamen von zwei Schwalben, die durchs offene Fenster ins Schlafzimmer geflogen waren und jetzt auf der Tür saßen und sich prächtig zu amüsieren schienen: “Quivit!”

Wie man sich vorstellen kann, hörte ich ihnen einigermaßen angestrengt zu, man will ja in solchen leicht surrealen Momenten weder zu sehr an seinem Verstand zweifeln, noch die entscheidende Inspiration für das nächste Buch verpassen, versteht sich. Sie blieben aber nur bei “Quivit”, mehr haben sie mir nicht erzählt. Vielleicht bin ich einfach nicht Märchenerzähler genug.

Und es gab übrigens auch gar keinen Grund an meinem Verstand zu zweifeln, die Schwalben kamen immer wieder, sobald wir die Fenster aufmachten. Sie flogen ins Schlafzimmer und ins Wohnzimmer, sie drehten äußerst elegante Kurven, pausierten auf Regalen und Türen, schienen sich manchmal leise und wie gurrend zu unterhalten, als würden sie die nächsten Manöver absprechen, jubilierten dann wieder im Losfliegen ihr “Quivit!” Flogen raus und flogen rein, es war mehr ihre Wohnung als unsere, obwohl sie doch auch nur Saisongäste waren. Aber eben schon wesentlich länger und häufiger als wir, das merkte man.

Sie waren auch gar nicht scheu. Man konnte ganz nah herangehen, bevor sie vom Regal hüpften und abhoben. Wenn eine Schwalbe losfliegt, dann wirft sie sich hoch in die Luft und lässt sich dann ein klein wenig stürzen, die Brust ganz vorgereckt, die Flügel nach hinten gezogen, sie stürzen und fangen sich dann sehr elegant wieder auf, drehen ab und ihre Rufe klingen, als würden sie lachen. Es scheint ihnen Spaß zu machen, wie sie sich in die Luft hineinstürzen. Bei Andersen steht die Schwalbe für die Lebensfreude, für die Lust am Sommer und an der Sonne, am Licht. Würde man sich als Erzähler so freudig und rückhaltlos in den Stoff stürzen, man würde vielleicht viel mehr erzählen? Ich habe dann auf Facebook geschrieben:

“Ich bin also gerade auf Eiderstedt in einer Wohnung, durch die Schwalben fliegen. Ich möchte hier bitte sitzenbleiben und einen sehr luftigen Roman schreiben.”

Und da schrieb gleich jemand drunter, dass das schon einmal ein guter Anfang sei. Aber was soll’s, die Schwalben haben mir ja mehr nicht erzählt. Schade eigentlich. Oder muss man sich für solche Erzählungen erst etwas näher kennenlernen? Sollte ich für das nächste Jahr gleich wieder diesen Hof buchen? Ich muss nachdenken.

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4 Kommentare

  1. Die haben sich bestimmt über die kleine Familie in ihrem Zuhause unterhalten: „Ach guck mal an, die haben auch zwei im Nest, die sehen ja schon ganz schön groß aus, aber in den Süden können die bestimmt noch nicht fliegen.“

  2. Ah.. Es löst sich ein Rätsel meiner Kindheit.. Das Quivit ist als Ausruf durchaus bekannt.. Nur mein Vater belesener als ich..
    Ist mir der Däumeling nie über den Weg gelaufen! Wird nun nachgeholt!

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