Nachdenken mit Sohn II

Wenn Vierjährige nachdenken, muss das nicht trivial sein. Denn auch in dem Alter kann man schon über große Fragen nachdenken – man kann es sogar erstaunlich gut, auch wenn man ganz und gar kein höherbegabtes Kind ist, kein Wunderkind, kein Genie. Und man kann auch ganz ohne jede Bildung denken, weil der Mensch an sich eben denken kann. Der Mensch kann es genau genommen so gut, dass man bei jedem Kind wieder versteht, wie aus manchen dieser kleinen Wesen irgendwann große Denker werden können, Mathematiker, Wissenschaftler, Philosophen. Kinder brauchen keine Anleitung, sie fangen an zu denken, richtig zu denken, tiefschürfend zu denken, sobald nur das Vokabular reicht, es fasziniert mich immer wieder. Jedes Kind treibt es zu anderen Themen, aber jedes Kind grübelt.

Aktuell entdeckt Sohn II seine Vorliebe für Zahlen und mathematische Phänomene, eine Leidenschaft, die ihm in diesem Haushalt ganz gewiss niemand vorlebt, ganz im Gegenteil. Er grübelt über Zahlen. Über deren Steigerungsfäigkeit, über Zahlenreihen und, ganz wichtig, über ihre Unendlichkeit. Er denkt schon seit Wochen verbissen auf der Unendlichkeit herum, die ihm bei Zahlen zum ersten Mal auffiel. Mittlerweile hat er sie auch für das All entdeckt, das scheint ihm vergleichbar, das nimmt er recht lässig hin. Zahlen hören nicht auf. Nie. Man könnte ein ganzes Leben lang zählen und käme an kein Ende, es gibt nämlich kein Ende, es gibt immer noch eine Zahl mehr. Das kann man sich ganz plastisch vorstellen, weil man ja immer eine Zahl mehr sagen kann. Und noch eine. Und noch eine. Es lässt ihm einfach keine Ruhe.

Er stellt sich vor, um die Erde zu gehen, einmal ganz herum. Das ist eine Kugel, die hat keinen Anfang, also hat sie auch kein Ende. Sie ist damit irgendwie auch unendlich, aber nicht so wie die Zahlen, nicht so wie das All. Man ist ja irgendwann herum, um die Kugel, man kann sie gewissermaßen komplett begreifen, die Unendlichkeit aber nicht. “Man kann ganz herumgehen, also mit einem Schiff zwischendurch. Dann lebt man hinterher noch, nur nicht mehr so lange.” Er denkt und denkt, schließlich kommt er darauf – die Erde kann man von allen Seiten antippen, wie einen Ball, sie hat eben doch ein Ende. Die Fläche ist das Ende. Eine Kugel ist begrenzt, sie hat nur keinen Eckpunkt, keinen Start. Er tastet auf einem Ball herum und denkt und denkt. Er kann das sprachlich noch nicht richtig ausdrücken, was er gerade herausfindet, aber seine Finger kreisen und tippen. Kein Ende ist nicht unendlich. Das ist schwer, aber man kann doch darauf kommen. Und wenn die Kugel einen Anfang hätte, dann wäre sie eine Spirale. Sagt er, springt auf, holt einen Zettel und malt: “Wie bei einer Schnecke!”

Er fragt immer wieder, ob tausend mehr als hundert ist. Wieviel eine Million ist, wieviel eine Milliarde, wieviel Zigtrilliarden. Und ob diese Zahlen näher an der Unendlichkeit sind als, sagen wir, zehn. Er fragt Multiplikationen ab, hundert mal hundert, tausend mal tausend. Kommt man dann näher? Oder mit einer Million plus eine Trilliarde? Nein. Nichts kommt an unendlich heran, gar nichts. Er fragt nach unendlich plus tausend, stellt dann aber, noch bevor ich antworten kann, fest, dass Rechenaufgaben mit unendlich gar keinen Sinn haben. Weil man unendlich ja nicht erreicht, kommt man auch nicht zur anderen Zahl, die man adddieren möchte, das kann man vergessen, sagt er.

Er liegt im Bett, ich liege neben ihm. Er sagt mir zum hundertsten Mal, dass niemand weiß, wann unendlich zu Ende ist, auch in der Zeit nicht. Er bittet mich zu schweigen und sieht angespannt in das Zimmer. Mit weit aufgerissenen Augen, er hält den Atem an, macht keinen Laut und starrt. Starrt in den Raum, in dem sich jetzt gar nichts mehr bewegt. Stille im Raum, Stille im Haus. Er sieht mit großen Augen zum Fenster, wo ein paar Schleierwolken gemächlich vor blassblauem Hintergrund vorbeiziehen. Ein Auto fährt irgendwo weiter weg vorbei, ganz leise, eine Möwe schreit jäh über dem Dach. Das Kind guckt und guckt und ich merke – er guckt die Zeit an. “Jetzt”, sagt er, als er doch Luft holen muss, “jetzt ist unendlich auch noch nicht vorbei.” Aber er hat immerhin doch ein Stück davon vorbeigehen sehen, das war wichtig. Ein Stück von den Stücken, aus denen sich die Unendlichkeit immer wieder neu vor uns aufstapelt.

Er grübelt über die Unendlichkeit der Zeit in beiden Richtungen, über seine Position darin. Er fragt: “Papa, sind eigentlich mehr Menschen schon gestorben oder mehr noch nicht geboren?”

Ich bin sprachlos. Ich denke selbst nach, ich verliere mich in Mutmaßungen. Wir nähern uns der Antwort gefühlsmäßig, nicht wissenschaftlich, ich bin kein Wissenschaftler. Den Anfang der Menschheit kann man bestimmen, irgendwann gab es uns noch nicht, oder nur als Affen. Über das Ende wissen wir weniger, auch wenn es sicher kommen wird, das ist klar. Aber wir waren sehr lange sehr wenig Menschen, wir sind jetzt sehr viele Menschen, wir raten daher beide, dass mehr Menschen noch geboren werden, als schon gestorben sind. Wenn die Welt nicht gerade morgen untergeht, versteht sich.

Ist Ihnen klar, was das für eine Konsequenz hat? Mir war das gar nicht klar, ich habe aber mit dem Sohn gemeinsam darüber nachgedacht. Das heißt nämlich, wir sind nur die Vorhut, die meisten kommen erst noch. The best is yet to come? Wir bereiten für andere vor, wir sind mitten in einer Geschichte, also in der Geschichte. Zumindest kann man es so sehen.  Andersherum wären wir schon mit der Abwicklung beschäftigt, wäre der Höhepunkt überschritten, après nous le déluge, wir gucken längst den Abspann. Das ändert schon etwas, finden Sie nicht? Dem Sohn ist das wichtig, dass das meiste vor uns liegt, das findet er gut und richtig. Geschichten sind am Anfang nämlich besser, das ist ja klar. Wenn man anfängt vorzulesen, die ersten Seiten – auf denen liegt doch der Genuss. Nach hinten hin hat man ja Angst vor dem Ende. Auch wenn es ein gutes Ende ist.

Da kann man mal drüber nachdenken. So etwa ab 4 anscheinend. Ich habe übrigens gemacht, was man als Vater heute eben macht, ich habe die Frage nach unserer Position in der hypothetischen Zeitreihe der Menschen , die mich dann doch leicht überforderte, an meine sozialen Netzwerke weitergereicht. Da bekommt man dann schlaue Antworten auf Teilaspekte – und das gute, das sehr gute Gefühl, dass andere Menschen mitdenken. Und etwas sagen, etwas fragen, etwas ergänzen. Ich lese dem Sohn einige Antworten vor. Andere Menschen freuen sich über seine Frage. Er wächst mit dem Gefühl auf, dass man immer auch gemeinsam denken kann. Auch mit 4 schon. Ist das nicht großartig?

Sage mir keiner was gegen soziale Netzwerke. Das muss so.

 

41 Kommentare

  1. Er guckt die Zeit an. Mann, Mann. Das kann ja noch heiter werden mit dem Sohn II. Ein klitzekleines bisschen ungewöhnlich für 4-Jährige ist das aber doch, selbst wenn man seine Kinder nicht hochbegabt nennen will. <3

  2. Wunderschön! Und ja, kompliziert… Aber es macht Spaß, das mitzudenken.

    Irgendjemand hat gesagt, dass alle Kinder hochbegabt geboren werden. Ich mag die Vorstellung, und das Gefühl, dass es Erwachsene gibt, denen das nicht egal ist.

  3. Fragen über die Unendlichkeit machen mir immer Angst. Gedanken dazu nehmen mir immer die Luft zum atmen, sie erdrückt mich, diese Unendlichkeit. Die Gedanken/Fragen Ihres Sohnes – Ohne Worte. Oder doch: Beeindruckend!

  4. Der Kleine denkt über Phänomene nach, über die ich damals erst mit ca. 11 Jahren angefangen habe nachzudenken. Das ist schon erstaunlich. Aber er hat ja auch Eltern, die mit der Sprache umgehen können. Das hatten wir damals ja nicht, und richtig gesprochen wurde mit Kindern ja sowieso nicht. Man kann ihm nur wünschen, dass seine Lehrer später in der Schule mit ihm mithalten können.

  5. Das ist so wunderbar, dass ich ganz atemlos bin. Und genau wie Paula musste ich besorgt an die spätere Schulzeit denken. Bei unserem auch sehr vielfragenden und -denkenden Kind ist sie leider ausgesprochen problematisch.

  6. Wenn noch mehr Menschen geboren werden, als bisher gestorben sind, bedeutet das auch ganz schön viel Verantwortung für diejenigen, die gerade leben. Es sei denn, die Welt geht tatsächlich morgen unter. Kann man ja nicht wissen.

  7. Wow, Kinder sind großartige Denker, ja. Wenn dann noch ein sehr schreibbegabter Papa die Denkprozesse so scharfsinnig und poetisch niederschreiben kann (nicht zu vergessen: sich auf Augenhöhe mit den Gedanken der Kinder auseinandersetzt), dann sitze ich, wie so oft, mit offenem Mund da und denke nur „Wow“.
    Danke für diesen wundervollen Text.

  8. Herrlich! 4-Jährige sind eine ganz besondere Spezies. Bei meinem Sohn ist zuzeit „Hunderttausendzehn“ das Höchste. „Das ist hunderttausendzehn teuer“, „wir fahren hunderttausendzehn schnell“, „wenn ich zu viel esse, wiege ich bald hunderttausendzehn“ und so weiter. Außerdem beschäftigt uns gerade das Phänomen der Babys mit 2 Köpfen. Laut Sohn sind da sind nämlich „2 Eizellen zusammen gewachsen“. Sie sind schon manchmal etwas unheimlich, die Kleinen.

  9. Da gibt es so ein Argument fuer den mittelfristigen Weltuntergang, an dessen Schoepfer/ Namen ich mich gerade nicht erinner: Wenn man einer von allen Menschen ist, die jemals leben, dann ist es unwahrscheinlich, dass man zufaellig gerade einer der ersten ist. Insbesondere bei Bevoelkerungswachstum. Erwarten wuerde man eher einen Platz in der Mitte. (Es sei denn die Menschheit wird unendl. lange bestehen, dann ist ja immer Anfang.)

  10. SIE schaffen es noch, dass ich bedauere, keine Kinder zu haben. Das ist das erste Mal, dass ich das zu jemanden sage.

    Danke für die schöne Geschichte. Und den Hinweise auf die Freude des gemeinsamen Nachdenkens.

  11. Das ist einfach nur großartig!
    Bitte richten Sie Sohn II aus, dass er zur Not mit einem Googol rechnen kann. Wenn ich mich recht erinnere ist das eine 1 mit 100 Nullen. Hat man wohl mal festgelegt um mathematisch mit „annähernd unendlich“ rechnen zu können.
    Und dann kam eine Firma aus den Silicon Valley und hat sich gedacht – das könnten wir ja mal als Firmennamen nehmen 😉
    Grüße an den großen Denker und seinen tollen Papa!

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  14. Danke für diesen Text, auch wenn er hier gerade eine mittlere Beziehungskrise ausgelöst hat.
    Jetzt frage ich mich nur, ob ich bei meinen eigenen Kindern nicht zugehört habe oder ob sie solche Gedanken wirklich nicht geäußert haben.

  15. “Papa, sind eigentlich mehr Menschen schon gestorben oder mehr noch nicht geboren?” Wow. Lange nicht mehr eine so kluge Frage gelesen!

  16. Pingback: Unsere Netzhighlights – Woche 22/14 | Apfelmädchen & sadfsh
  17. Meine Lieblingszeilen dieses schönen Blogposts sind diese:

    Das Kind guckt und guckt und ich merke – er guckt die Zeit an. “Jetzt”, sagt er, als er doch Luft holen muss, “jetzt ist unendlich auch noch nicht vorbei.”

    Die Zeit angucken. Toll.

  18. Sehr berührend, die Zeilen. Und wahr. Ich hätte mich als Kind (vielleicht noch nicht mit vier, aber mit sechs) gefreut, wenn ich mit meinem Papa so über das hätte sprechen können, was mich bewegt und für das ich nur noch nicht die richtigen Worte kannte.
    Ich glaube übrigens, dass sehr viel von dem, was wir Kindermund nennen, genau davon kommt. Das Kind hat komplexe Gedanken, findet aber nur die Worte, die es schon gelernt hat und dann kommt etwas heraus, worüber wir schmunzeln oder sogar lachen.

  19. Was für ein schöner Text. Toller Sohn, toller Vater.

    Ich erinnere mich noch gut, wie ich als Kind nicht einschlafen konnte, als ich die Unendllichkeit des Alls „entdeckt“ habe: aber was kommt dahinter…? Geduldig neben mir im Kinderbett: mein Vater, der stundenlang Fragen beantwortet und sich mit mir gewundert hat. Dafür, dass er mich so ernst genommen hat, generell und in diesem Moment, bin ich ihm heute noch dankbar.

  20. Wundervoll! Ich bin schwer beeindruckt von dem kleinen Philopsophen. Meine Butterkekse philosophieren auch ganz eifrig, allerdings in andere Richtungen! Ein Hoch auf unsere Kinder ??

  21. Es gibt eine Geschichte zur Unendlichkeit der Zeit, die mich sehr beeindruckt hat, als ich ein Kind war:
    Irgendwo steht ein hoher Berg, er reicht bis über die Wolken, aus dem härtesten Stein der Welt. Einmal in einer Million Jahren kommt ein winziger Vogel dorthin und wetzt kurz sein Schnäbelchen. Und wenn der Berg ganz abgewetzt ist, dann ist eine Sekunde der Ewigkeit vorbei…
    Danke für diese besonderen Sohn-Geschichten, Herr Buddenbohm!

  22. Mein Sohn hatte mit 6 die Antwort auf die Frage nach der Unendlichkeit der Zahlen gefunden. Er sagte, die größte Zahl der Welt sei so groß wie das Universum. 🙂
    Vielen Dank für die schöne Beobachtung.

  23. Als weitere Gedankenanregung: Die Unendlichkeit liegt auch in sehr kleinen Zahlenbereichen. Zwischen der 0 und der 1 liegen auch unendlich viele Zahlen. Und da Sohn II vermutlich noch keine reellen Zahlen kennt: Er könnte überlegen, wieviele Striche es gibt, wenn er auf einer Linie jeden Punkt markieren möchte. Und wenn Sie ihm dann noch sagen, dass das mehr Punkte sind als in den natürlichen Zahlen (1, 2, 3, 4, …) Vielleicht können Sie ihn ja dauerhaft für Mathematik begeistern 😉

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