Hochgucken, Tag 3

Ich fahre gar nicht jeden Tag mit der S-Bahn zur Arbeit, ich gehe meistens zu Fuß. Nur wenn es regnet oder ich es sehr eilig habe, steige ich in die Bahn und fahre dann auch nur eine Station, das ist wirklich nicht viel um Material für diese Rubrik zu sammeln. Ich setze mich in der Bahn nicht einmal hin.

Aber manchmal reicht es eben doch. Ich stehe an der Tür der Bahn, neben mir steht eine Frau, die außer Atem ist, weil sie gerade eben zur Bahn gerannt und durch die sich schon schließende Tür gesprungen ist. Als ob die nächste Bahn nicht in 2 Minuten käme, ich verstehe so etwas nicht. Die Frau jedenfalls ist gerannt und gut getan hat es ihr nicht, das ist nicht zu überhören, sie ringt nach Luft. Eine junge Frau, die könnte auch besser in Form sein, allerdings ist sie ohnehin angeschlagen. Nase gebrochen oder sonstwie lädiert, Verband und Pflaster darauf. Natürlich sehe ich da nur eine Sekunde hin, man starrt nicht in verletzte Gesichter, auch die Menschen neben mir sehen in alle möglichen Richtungen, nur nicht zu der Frau mit der vielleicht tatsächlich angeschlagenen Nase, wer weiß. Das eine Auge könnte blau gewesen sein, da war so ein Schatten, aber einen zweiten Blick vermeidet man natürlich lieber. Die Haare etwas strähnig, aber es ist vermutlich auch nicht ganz einfach, sie zu waschen, wenn man so eine Verletzung hat. Die Hose ein wenig kaputt am Knie, die Stiefel etwas dreckiger als in Büros üblich. Die Frau legt eine Hand an die Scheibe der Tür und sieht hinaus, wir fahren gerade über eine Brücke und ihr Blick geht über die Büroklotzlandschaft unter ihr. Um sie herum, das ist ein Zufall, stehen nur Männer, fast wie in einem inszenierten Halbkreis. Männer, die an ihr vorbeisehen, auf Displays oder auf den Boden. Büromänner in Anzügen unter Outdoorjacken. Es ist nur eine Sekunde, dieser Moment auf der Brücke, aber es ist eine Sekunde aus einem französischen Film. Ihre Amour fou ist in die Luft gegangen, die ganze wilde Liebesgeschichte ist nichts geworden, ein neuer Anfang bisher nur angedeutet, im Bereich des immerhin Möglichen. Die Frau ist eine bekannte Schauspielerin, ohne Pflaster und gestylt würde man sie sofort erkennen. Sie spielt die Unscheinbare und ist doch weit davon entfernt. Vor dem Fenster irgendein Vorort von Paris, eine trübe Angelegenheit mit unerfreulichen Umständen und grauen Figuren, aber die Fahrt geht in die Stadtmitte und da wird es dann schon weitergehen, es geht immer irgendwie weiter in französischen Filmen.

Kameraschwenk zu ihrer Hand, die den Schalter zum Öffnen der Tür drückt, mit einem ganz leichten Zittern, gerade eben zu erkennen. Melodramatischer Soundtrack von einer dieser Wisperfranzösinnen, komplizierter Text, versteht man eh nicht, aber so eingängige Melodie, dass das Stück im nächsten Jahr in einem Werbespot für eine Versicherung wieder auftauchen wird, in einem rührenden Clip für eine Lebensversicherung. Die Tür der S-Bahn geht auf.

Schnitt.

5 Kommentare

  1. also das ist aber wirklich ganz grosses kino! toll getroffen! dachte so an francois truffaut und dergleichen nur die bruni hab ich nicht gehört. die vielfalt der exkursionen hier bei ihnen ist mir immer wieder anlass zur freude.

  2. Hochgucken wird hier gerade ganz klar zu meiner Lieblingsrubrik, danke für diese Schlaglichter. Und bitte sehr gern mehr davon!

  3. Welch Fantasie und so wundervoll beschrieben, meine Fantasie – oder Wunschtraum – Merlix schreibt ein Drehbuch und die Katze, ne Prinzessin, also Sohn II ist der Hauptdarsteller, ich kann warten…

  4. Ha! Ich wusste, dass sie *da* aussteigen, in dem Moment, in dem ich las, dass dort 90% aller Hamburger morgens die Bahn verlassen ;). Hochgucken ist großartig. Ich werde auch damit anfangen. Obwohl ich schon hoch- und runtergucken ganz gut abwechselnd beherrsche.

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