Szenen aus Sankt Georg (2)

Es ist für dieses Blog nicht ganz untypisch, dass dauernd Reihen angefangen werden, die keine Fortsetzung finden, es ist alles ganz wie im echten Leben. Die Szenen aus Sankt Georg etwa habe ich vor schon ziemlich langer Zeit mit der Beschreibung eines Ladens auf dem Steindamm begonnen und damals die Nummer 1 hinter die Überschrift geschrieben, dann kam ich aber davon ab. Er kam zwar zu nix, aber doch von allem ab, das beschreibt mein Schaffen überhaupt ganz anschaulich, glaube ich.

Die Nummer 2 der Reihe hatte ich damals noch längere Zeit im Sinn, aber die spielte im Herbst und dann wurde es Winter und der Text passte nicht mehr recht. Der Nummer 3 ging es ähnlich und dann waren natürlich längst andere Ideen wichtiger. Aber ich möchte jetzt doch gerne auf die Reihe zurückkommen, mit einer neuen Nummer 2. Das liegt auch an den rechtlichen Begrenzungen der Straßen-Fotografie in Deutschland, man darf nicht ungefragt Bilder von Fremden veröffentlichen, auch wenn sie noch so dekorativ irgendwo herumlungern. Man müsste ihr Einverständnis haben, dafür müsste man sie ansprechen, das ist heillos kompliziert. Man darf Fremde aber ansehen, sich das Bild merken und dann versuchen, es zu beschreiben, so wie damals bei den Szenen auf dem Steindamm. Es gibt diese berühmte Reihe “Pictures I did not take”, das wird der eine oder andere vielleicht kennen, ich finde gerade das Ursprungsblog nicht, Textbeschreibungen von Bildern, die man nicht aufgenommen hat. War es nicht ein Gemeinschaftsblog? Egal. Bilder, die man nicht aufgenommen hat also. Weil es nicht ging, weil man nicht durfte, weil man keine Kamera dabei hatte, warum auch immer. Bilder, die man aber doch so als Motiv erkannt hat, dass sie ein wenig in Erinnerung bleiben. Ich glaube, in diesem Sinne führe ich die Szenen aus Sankt Georg jetzt doch wieder weiter. Zur Selbstmotivation bekommen sie auch gleich eine eigene Kategorie.

Zwei junge Menschen umarmen sich vor der S-Bahn

Mittwochmorgen, 07:30, Hauptbahnhof. Es nieselt und die Menschen gehen mit hochgezogenen Schultern Richtung S-Bahn oder zu den Pendlerzügen in die umliegenden Vororte und Städte, von den Gleisen kommen ihnen andere Pendler in großen Gruppen entgegen. Einige haben in den Zügen geschlafen, zerknautschte Gesichter. Menschenströme, die sich unentwegt vermengen und neu sortieren, das verzweigt sich, verschiebt sich, reiht sich auf, stellt sich an, steigt ein, steigt aus, steht herum. Man stiert auf Werbung, die auf riesigen Bildschirmen zwischen den Gleisen läuft, kauft im Vorbeigehen an den Kiosken Kaffee und Brötchen, streift die Schlagzeilen der Zeitungen mit einem Blick. Schlechtgelaunte Gesichter wohin man auch sieht, Kopfhörer in den Ohren, Blicke auf Smartphones, jeder versucht, die Masse zu ignorieren. Kaffeebecher in den Händen, Franzbrötchenkrümel auf den Jacken, selten mal eine Zeitung, die auch gekauft wurde. Schnelle Schritte, eilig hat es hier um diese Uhrzeit jeder, man muss zum Zug, zur S-Bahn, zur U-Bahn, ins Büro, bloß weiter, geh weg, und jeder steht jemandem im Weg, geht nicht schnell genug oder rennt vor den Füßen herum, rammt andere mit Rollkoffern oder Rucksäcken und steht auf Rolltreppen auf der falschen Seite. Ein kollektiver Unwillen liegt in der Luft und die morgendliche Stimmung der Menschenmenge ist passiv-aggressiv wie an jedem Werktag.

Auf dem S-Bahngleis stehen zwei junge Menschen eng beisammen, vielleicht siebzehn Jahre alt, vielleicht noch etwas jünger. Sie stehen abseits, soweit man auf diesem brechend vollen Gleis überhaupt von einem Abseits reden kann. Sie stehen am äußersten Rand, wo ein paar Mülleimer die hastenden Heerscharen der Berufsttätigen in neue Reihen aufspalten, hinter ihnen öffnet sich die Bahnhofshalle bald zur dunkelgrauen Stadt. Man erkennt in der Ferne ein paar erste Lichter in Bürohäusern und davor noch rote Signalleuchten der Bahn. Sie sehen beide nach spanischer Abstammung aus, was natürlich auch Südamerika oder Gott weiß was bedeuten kann, jedenfalls sind sie beide eher attraktive Menschen, die könnte man vom Fleck weg für einen Werbespot rekrutieren. Sie tragen beide schwarze Kleidung, es sieht aber eher nach Zufall aus, als nach einem modischen Statement, keine Gruftis oder Partisanen aus dem schwarzen Block, eher lässige Freizeitkleidung, heute mal in dunkel, warum auch nicht. Er hat einen Bart, der noch kein rechter Bart ist, da muss man ihm noch ein wenig Zeit geben, ein Jahr vielleicht, dann sieht das gut aus. Sie haben beide lange, schwarze Haare und weil sie sich umarmen, sieht man im Vorbeigehen gar nicht, welche Haare da zu wem gehören und wenn die Szene ein Schwarzweißfoto wäre, nur der Ausschnitt der Haare auf den Schultern, dann wär es ein wenig verwirrend, was denn da eigentlich was ist.

Dieses Zusammenfließen der Haare. die aneinandergelehnten Köpfe, die sich manchmal sachte verschieben, Stirn an Stirn, Stirn an Wange, Stirn an Schläfe. Beide sehen ein wenig nach unten, so dass sie noch mehr füreinander sind.  Umeinandergelegte Arme. Man kann sich vorstellen, dass es die erste Liebe ist, das Bild ist dann natürlich gleich noch schöner. Das ist eine Körperhaltung, an die man sich erinnert, besonders jetzt im Herbst, wo die Wehmut eh Saison hat. Damals also, der erste Klammerblues auf der einen Party, da hat man auch einmal so gestanden und so konzentriert hingefühlt und jedes einzelne lange Haar auf der Wange gemerkt und ihren Geruch am Hals und das Gewicht der Arme auf den Schultern und die Wärme zwischen den Körpern und den Druck der Hände am Rücken und den Atem, den hat man die ganze Zeit gehört, jeden Zug, jeden einzelnen Zug, das ganze Lied über.. Und sonst hat man absolut nichts mehr mitbekommen, wenn es damals richtig gewesen ist, die Party nicht, die Musik nicht, die Freunde nicht, man war zu zweit und das war alles und wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre, dann wäre es auch für immer gewesen. War es dann aber, große Überraschung, doch nicht, und damit hat natürlich niemand rechnen können.

So also sehen die beiden aus und so gucken sie auch. Sie haben diesen waidwunden Blick frischer Liebespaare, die sich gleich loslassen müssen und die genau wissen, dass der Rest der Welt sie nicht versteht, sie auch gar nicht verstehen will und mit diesem Blick sehen sie ab und zu hoch und ganz kurz in die Menge oder auf den hundsgemeinen Anzeiger der S-Bahn-Abfahrten. Und die Menschen in der Menge, die das Pärchen vermutlich alle sehr wohl verstehen, die lächeln manchmal sogar, wenn sie das Paar so sehen, aber das merken die beiden gar nicht, weil sie ja keiner verstehen kann, denn sie erfinden es doch gerade erst neu, dieses ganze Verliebtsein, mit allem Drum und Dran. Das gab es so noch nie, das steht doch ab morgen erst überall dran, mit grellroten Sonderaktionsaufklebern überall in der Stadt: “Neu! Jetzt auch mit Liebe!”

Dann kommt die Bahn und die beiden müssen sich wirklich trennen, obwohl sie vielleicht gerade, wer weiß, die Nacht gemeinsam verbracht haben und von dieser unglaublichen Weltsensation so erschüttert und sprachlos sind, wie wir es alle einmal waren. Waren wir nicht? Müssen sich trennen, weil das Leben auf so etwas nun einmal keine Rücksicht nimmt, das Leben nicht und auch sonst keiner, mir doch egal, geh weg, steh hier nicht rum. Nichts als Rücksichtslosigkeiten und Zumutungen in diesem Leben, dauernd kommt etwas dazwischen, sogar zwischen frische Pärchen, da darf man schon einmal betroffen und pudelig begossen ausehen, besonders wenn man erst siebzehn Jahre alt ist oder noch jünger. Und wie groß diese besonders bittere und gnadenlose Zumutung der einfahrenden S-Bahn gerade ist, das sieht man den beiden jetzt mehr als deutlich an. Weiter hinten zeigt eine Frau mit dem Finger auf die beiden und stößt ihre Freundin an, lachend verdrehte Augen. Das merken die beiden Liebenden natürlich auch nicht, die küssen sich, umarmen sich, trennen sich, gehen einen Schritt, gehen doch lieber schnell einen Schritt zurück, umarmen sich schon wieder, küssen sich lieber doch noch einmal, ein einziger Kuss geht dann noch, nur einer noch und doch noch einer. Hände in den Haaren, Hände am Hals, Händen an den Händen. Wieder auseinander, noch ein Schritt, wieder zurück. Kein einziges Wort dabei, nur immer diese bedeutungsschwangeren Blicke, die jedem Stummflim angemessen wären, alles völlig übersteigert, also alles genau richtig. In einem Zeichentrickflim würde man sie Fäden ziehen lassen, während sie sich mühsamst trennen, Fäden, die immer dünner werden, während sie in verschiedene Bahnen steigen und in verschiedene Richtungen fahren, in die Schule, in die Uni oder ins Büro. Hauchdünne Fäden wären das schließlich nur noch und in der nächsten Einstellung würde man dann sehen, dass all die verliebten Pärchen diese Fäden ziehen, wenn sie sich morgens an der Bahn verabschieden, Tausende von Pärchen würde man sehen, Helikopterperspektive, ein Gespinst von Fäden über der Stadt. Romantik! – wie Sven Regener an dieser Stelle mit griesgrämigem Gesicht und gereckter Faust von der Bühne rufen würde. Und dann käme ein schöner Song über Trennungen.

Dann fuhr auch meine Bahn ein. Der Hamburger Hauptbahnhof ist, zusammen mit dem Münchner Hauptbahnhof, der meistfrequentierte Bahnhof Deutschlands.

 

6 Kommentare

  1. Oh, so schön! Erst diese gute Beobachtung unseres Hauptbahnhoftreibens am Morgen – und dann (!) die unglaublich einfühlsam beschriebene Geschichte der Liebenden… eine festgehalten für viele. Seufz.

  2. Das Leben, das auf sowas keine Rücksicht nimmt, ist unser Leben. Aber vielleicht ist uns am Ende Geld doch wichtiger. Jeder setzt seine Prioritäten am Ende selbst.

  3. Ich war gestern kurz in Hamburg u.a. am HBF und ich möchte hier mal eine Frage stellen: warum stellen sich alle auf der Rolltreppe ganz nach rechts und lassen eiligere Leute links vorbei? Warum haben es die so eilig? Hier im Rheinland käme niemand auf die Idee…eigenartig ist das (wegen den paar Sekunden).

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